Dresden
Alljährlich, zum Jahrestag der Zerstörung Dresdens, findet eine Demo der Neonazis statt. Eine Blamage für Deutschland.Gleichzeitig findet eine Gegendemo statt – auch Parlamentarier sind unter den Gegendemonstranten, um ihre Abscheu der Faschisten zu bekunden. Zum Glück gibt es rechtschaffene Landsleute, denen Demokratie und Anstand wichtiger ist als die Gemütlichkeit ihres Sofas. Werden diese Demokraten als Helden gefeiert? Nein! Sie bekommen Gerichtsverfahren wegen „Sprengung einer Versammlung“ an den Hals — hier ein Artikel
von Jacob Jung..
Verwundert möchte man sich die Augen reiben.
Dachten wir doch, wenn es einen Grundkonsens in der Bundesrepublik gibt, dann der, dass Faschsimus in unserem Land nichts zu suchen hat. Offenbar irrten wir. Irgendetwas haben wir übersehen.
Entnazifizierung
Das, was wir diskret mit „Vergangenheitsbewältigung“ betiteln, wurde nicht von allen Teilen der Bevölkerung im gleichem Maße mitgetragen. Vergangenheitsbewältigung ist eine komplizierte, langwierigen Sache. Sie erfordert Mitgefühl (für alle Beteiligten), Geduld und Introspektion. Mit Schecks ist es nicht getan. Mit der Lektüre von Geschichtsbüchern auch nicht. Mit einer Betroffenheitszeremonie im Bundestag ebenfalls nicht. Wenn ein großer Teil eines Volkes von einem anderen traumatisiert wurde, dauert es mehrere Generationen, bis die Wunden verheilen -auf beiden Seiten. Den Nachkommen der „Tätergeneration“ wird wegen eines Verbrechens mit Misstrauen begegnet, wegen eines Verbrechens, das sie selbst nie begangen haben. Im Falle Deutschlands durften diejenigen, die die Wehrmachtsuniform getragen haben und das Glück hatten, nach Hause zurückzukehren, ohne materielle Sorgen altern. Die Zuhausegebliebenen, die von spontaner Blindheit getroffen wurden, als ihre Nachbarn abtransportiert wurden, mussten sich auch nie einer Verantwortung stellen. Ihre Nachkommen sind in materieller Üppigkeit aufgewachsen, ohne je den Nachkommen der Opfer ins Auge zu sehen. Das ist ein Nachteil, kein Segen.
Leben Seite an Seite
In Amerika leben Nachkommen von Sklaven und Sklavenhaltern Seite an Seite. In Ruanda leben Hutus und Tootsies nebeneinander. Die Nachkriegsgenerationen in Westdeutschland wurde von den Allierten bewusst verhätschelt, weil sie ein Bollwerk gegen die Sowjetunion erschaffen wollten. So wurde eine gründliche, nachhaltige Entnazifizierung der Logik des Kalten Krieges geopfert. Die Bevölkerung durfte sich der kollektiven Opferpose hingeben. Alle waren bloß Opfer des Hitlerregimes und haben nichts gewusst.Die Täter sind and ihren Hörnern und Bocksfüßen zu erkennen. Wir sind das Land der Ingenieure, Dichter und Denker. Alles klar.
Persilscheine
Die Alliierten standen nach dem Krieg vor einem Dilemma. Sie wollten eine rudimentäre Versorgung (vorallem medizinische) und Verwaltung der Zivilisten sicherstellen. Das wäre unmöglich gewesen, wenn sie darauf bestanden hätten, dass jeder, der zum Holocaust beigetragen hat, zur Rechenschaft gezogen wird. So wurden die berühmten „Persilscheine“ großzügig verteilt.
Der Preis dafür ist eine bis heute unvollständige Aufklärung der Nachkriegsgenerationen. Bis auf wenige, wiegen sich die meisten Deutschen in Illusionen. Sie glauben, dass die bösen Nazis einer kleinen Minderheit angehörten, die nach dem Krieg auf mysteriöse Weise verschwand und keinen Einfluss auf die Politik, Wirtschaft den Alltag unseres Landes haben. Sie glauben, dass sie meisten Erwachsenen nicht die leiseste Ahnung von Konzentrationslagern hatten. Alles arme irregeleitete Unschuldslämmer.
Die Greueltaten an Millionen von Zivilisten sind von einigen wenigen verrichtet worden – die treuen Wehrmachtssoldaten haben nichts davon gewusst. Wirklich? Rein rechnerisch -wie ist soetwas möglich? Wären wir nicht so emotional in der Beantworting dieser simplen Frage involviert, hätten wir keine Denkbehinderung. Die Antwort ist simpel:
Opa auf der Akropolis
Die Wahrscheinlichkeit, dass der Großvater oder Urgroßvater beim Russlandfeldzug, Griechenlandfeldzug, Norwegenfeldzug – die Liste ist leider lang – von Greueltaten nichts mitbekommen hat, scheint verschwindend gering. Diese kollektiv verordnete Amnäsie zieht sich durch alle Institutionen. Richtig weh tut es, wenn Archive, die der nachträglichen Aufarbeitung dienen, verschwinden oder „umstrittene Ärzte“ für „besondere Verdienste“ geehrt werden.

Quelle: Bundesarchiv
Fragen wir uns
Wie wahrscheinlich ist es, dass jemand, der während des Nationalsozialismus eine verantwortliche Position hatte, sein Handeln je freiwillig überprüfte und sich in der jungen Bundesrepublik effektiv für „Recht und Freiheit“ einsetzte? Angesichts dessen, dass die meisten Nazis mit Persilscheinen zum Mitwirken in der jungen Republik weiterempfohlen wurden, ist es denn wirklich verwunderlich, wenn heute noch ganze Staatsorgane auf dem rechten Auge blind sind?
Warum es relevant ist
Selbst, wenn sich Deutschland vom Rest der Welt abschotten könnte, wäre geschichtliche Vergangenheit relevant, aus dem einfachen Grund, dass sich jede Generation prinzipiell mit den überlieferten Werten auseinandersetzen muss. Wenn es wahr ist, dass die meisten Erwachsenen im Dritten Reich Nazis waren, dann ist es auch wahr, dass uns Nazis und die Kinder von Nazis erzogen haben.
Man kann davon ausgehen, dass viele private Familiengeschichte auf Lügen basieren. Was für die Quandts gilt, gilt auch für Jedermann. Und es ist schmerzhaft. Wenn es wahr ist, dass Teile der Naziverwaltung unter neuer Flagge ihre Arbeit fortsetzen durften, dann müssen auch unsere heutigen Institutionen kritisch untersucht werden.
Nun ist Deutschland keine Insel. Deutschland hat in der Griechenlandkrise ein hohes Gewicht – sogar ein Übergewicht. Was auch immer unsere Volksvertreter tun oder verkünden, es wird nunmal auch an der Vergangenheit gemessen. Nur an Zahlen und Bilanzen zu denken ist einfach dumm. Verträge werden zwischen Menschen abgeschlossen. Es ist völlig verständlich, dass sich Griechen an die Belagerung ihres Landes durch die Faschisten erinnert fühlen – es ist nunmal ein Trauma. Um es klar zu sagen: Schlagzeilen wie in der rechten griechischen Zeitung „Demokratia“ sind in der Tat geschmacklos, wie es der Blogger in diesem Link richtig bezeichnet hat. Hier wird ein Volk gegen ein anderes aufgehetzt, um von den eigentlichen Urhebern der Schuldenkrise abzulenken.
Des Traumas, dass dahintersteckt, sollte man sich allerdings bewusst sein, und notfalls bei Wikipedia über die griechische Hungersnot infolge der Besetzung durch die Wehrmacht nachlesen. Hier ein link bei Wikipedia – englisch, meiner Meinung nach besser als auf
Wikipedia deutsch .Spätestens dann sollte jedem, der über einen EQ größer als Null verfügt, Sprüche von der Sorte Kauders („Europa spricht jetzt deutsch“) im Halse stecken bleiben.
Braune Mentalität
Nazidenken äußert sich nicht nur im Schmieren von Hakenkreuzen. Es ist eine Haltung, die sich, mal laut, mal subtil, durch alle Lebensbereiche zieht. Grundlage ist der unerschütterliche Glaube an Herrenmenschen und Untermenschen, an prinzipielle Adersartigkeit. Hier die disziplinierten Deutschen mit ihren strengen Defizitregeln, dort die faulen Südländer mit ihrer mangelnden Professionalität und ihrem Hang zur Verschwendung.
Die Gnade der späten Geburt Da stehen sie nun, die deutschen Nachkriegsgenerationen, konfrontiert mit einem Erbe, auf das die meisten gerne verzichten würden. Ob es eine Gnade ist, weil die meistenTäter längst ausgestorben sind, oder ein Fluch, hängt von unserer Einstellung ab. Es ist ein Fluch, wenn wir uns der Herausforderung verweigern, eine Gnade, wenn wir uns ihr stellen. Um es klar zu sagen: Jede Demokratie hat auch mit antidemokratischen Elementen zu kämpfen. Hassschürer mit Glatze und Springerstiefel, oder in Kaschmir und gepflegter Wortwahl gibt es in jedem Land. Nur in unserem kollektiven Bewusstsein ist die Gefahr mehr als nur abstrakt. Wir wissen, dass das Böse ganz harmlos und liebenswert daherkommen kann. Opa und Oma trugen keine Hörner und Bocksfüße. Dieses Bewusstsein schärft den Blick.
Antibiotika gegen das Nazibazillus
Wie also rottet man das Nazibazillus aus? Zunächst einmal fängt man bei sich selbst an. Fragen wir uns, wo wir noch in Kategorien „wir gegen euch“ denken. Hinterfragen wir unsere eigene Familienmythologie! Hinterfragen unsere Volksvertreter, unsere Verwaltung und unsere Wirtschaftselite! Warum darf Herr Kauder ungehemmt schwadronieren, dass Europa demnächst deutsch spricht, ohne dass seine Parteikollegen ihm verschämt den Rücken kehren?
Unverkrampft Nur wenn wir unverkrampft unser (Familien~)Geschichte untersuchen, können wir klare Entscheidungen treffen. Nur mit klarer Identität können wir den Mittelweg zwischen Besserwissertum und Schuldkomplex finden. Beispiel Griechenland: Nur mit einer klaren Identität sind wir in der Lage, relevante Fragen zu stellen.
Wem kommen die Milliarden sog. Griechenlandhilfe wirklich zugute? Dem verarmten Griechen auf der Straße oder den Gläubigern?
Wie ist dieses Land in die Situation geraten? Haben auch korrupte Funktionäre in der EU und Investmentbanken ihren Anteil?
Wieviel Solidarität wollen wir den Bürgern Griechenlands schenken?
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